Das 6. öffentliche Fachgespräch der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fand unter Leitung von Frau Theresa Schopper, MdL, am 29.10.2010 im Bayerischen Landtag statt. Zum Thema „Ein Jahr schwarz-gelbe Gesund­heitspolitik“ referierten Frau Marlis Bredehorst, Staatssekre­tärin aus Nordrhein-Westfalen und Herr Dr. Helmut Platzer, Vorstandsvorsitzender der AOK Bayern. An der Veranstaltung mit anschließender Fachdiskus­sion nahmen auch mehrere ADG-Mitglieder vom Arbeits­kreis Kranken- und Pflegeversi­cherung teil.  Aus dem sehr umfangreichen Programm hier einige interessante Aussagen in Stichworten:

  • Das neue GKV-Finanzie­rungsgesetz ist die Verab­schiedung vom solidarischen Gesundheitssystem und der Einstieg in ein Kopfpauscha­lensystem mit einer Umver­teilung von 60 Milliarden Euro im Gesamtsystem.
  • Die Abkehr vom öffentlich-rechtlichen Ordnungsrah­men führt hin zur Privatisie­rung. Beim Insolvenzrecht sind 220 Gesetzesänderun­gen notwendig, um es auf die GKV anwendbar zu ma­chen.
  • Beim Wettbewerb hat die Gesetzliche Krankenversi­cherung (GKV) kein Problem mit der Privaten Krankenver­sicherung (PKV). Es darf aber keinen „Naturschutzpark PKV“ geben.
  • Die Entwicklung der Bei­tragsgestaltung führt immer mehr dazu, dass die Versi­cherten ihn nicht mehr be­zahlen können.

Zum Vergleich: In den Nie­derlanden wurde 2006 das Kopfpauschalensystem ein­geführt. Schon heute benö­tigen 75% der Versicherten eine staatliche Beihilfe zum Krankenkassenbeitrag.

  • Der Verlust der Regionalität und Selbstverwaltung ist besonders schmerzhaft für Bayern. Es droht der Verlust des Belegarztwesens, ambu­lanten Operierens und Haus­arztvertrages.
  • Seit der Föderalismusreform sind im Gesundheitsbereich kaum noch Gesetze im Bun­desrat zustimmungsbedürf­tig.
  • Der Hausärzteverband in Bayern ist keine Einrichtung des „öffentlichen Rechts“ wie eine Krankenkasse oder Kassenärztliche Vereinigung sondern eine privatrechtli­che Firma.
  • Erfolgs-, qualitäts- oder leis­tungsorientierte Vergütung kommt nur in Sonntagsre­den vor. Es wird versucht, die Mittel mit der Gießkan­ne zu verteilen.
  • Die Weiterbildung der Ärzte wird zu 90%von Pharmafir­men finanziert.
  • Das neue Arzneimittelmarkt­neuorientierungsgesetz (AMNOG) erzwingt für Arz­neimittel eine Beweislastum­kehr vom Hersteller zum An­wender.
  • Die Kosten-Nutzen-Analyse für Arzneimittel erfolgt erst ein Jahr nach Einführung des Mittels.
  • Die Pharmahersteller wer­den von der Verpflichtung befreit, für neue Medika­mente, einem im Vergleich schon eingeführten Arznei­mittel, einen zusätzlichen Nutzen zu beweisen oder auch nur plausibel zu ma­chen.
  • Das neu anzuwendende Kar­tellrecht im Gesundheitssys­tem erschwert bzw. verhin­dert den Krankenkassen die Poolbildungen beim Einkauf von Medikamenten und Hilfsmitteln.
  • Seit ca. 30 Jahren ist der An­teil der Gesundheitskosten am BIP gleichbleibend.
  • Die Immobilienwirtschaft (Bielefelder Modell NRW) steigt erfolgreich als Anbie­ter in das Gesundheits- und Pflegesystem ein. Dieses Modell wird auch von einem Wohnungsunternehmen in München verfolgt, dessen Eigentümer die Stadt Mün­chen ist.
  • Bei der Kostensteigerung wird die demografische Ent­wicklung oft überbewertet. Der demografische Faktor im Kostenzuwachs beträgt ca. 1,2-1,4% pro Jahr.
  • Der Mensch im Mittelpunkt, das ist die Basisfrage. Ist unser Gesundheitssystem in der Lage, Menschen gesund zu machen oder  ist es selbst ein krankes System?
  • Ziele der rot-grünen Politik im Gesundheitswesen sind: Zuwendung (Mensch zu Mensch; keine Maschinen­pflege); Eigenkompetenz fördern; Selbstbestimmung; Qualitätssicherung und Kooperation mit allen Betei­ligten.
  • In der Arbeitswelt brauchen ältere Arbeitnehmer andere Rahmenbedingungen.
  • Die Folgen bei psychischen Erkrankungen sind beson­ders schwerwiegend. Die Dauer der Arbeitsunfähig­keit ist um ein Vielfaches länger.

In einem Abschlussstatement erklärte Frau Schopper:

Die schwarz-gelbe Koalition hat viel versprochen, aber we­nig gehalten. Die Bilanz nach einem Jahr schwarz-gelber Gesundheitspolitik lautet:

Weniger Solidarität, weniger Gerechtigkeit, die gesetzlich Versicherten sind die Zahlmeis­ter des Systems - aber für be­stimmte Lobbygruppen ist lau­fend Bescherung. Nach den Hoteliers und der Atomlobby dürfen sich nun Pharmaunter­nehmen und die PKV ihre Ge­schenke abholen. In der Ge­sundheitspolitik dagegen geht es weiter in Richtung Zwei-Klassen-Medizin. Mit der ge­planten Gesundheitsreform wird klar, dass sich künftig Krankenversicherung und Soli­darität ausschließen. Ab 2012 sollen die Steigerungen der Gesundheitsausgaben nur noch von den Arbeitnehmern und Rentnern bezahlt werden. Die Arbeitgeber werden davon ausgenommen. Wie der ge­plante Sozialausgleich der dabei anfallenden pauschalen Zusatz­beiträge finanziert wer­den soll, ist weitgehend unge­klärt.

Manfred Schmidtlein
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