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Ziel der Pflegeversicherung verfehlt

Pflegebedürftige Menschen sollten nicht regelmäßig in die Sozialhilfe abrutschen, deshalb wurde 1995 die Pflegeversicherung eingeführt. Dieses Ziel wurde in den letzten 27 Jahren für gesetzlich Versicherte weit verfehlt. In Pflegeheimen sind 36 Prozent der Pflegebedürftigen auf Sozialhilfe angewiesen. Das waren im August 2020 nach Aussage des Statistischen Bundesamtes 318.580 Menschen von 876.867.

Pflegeversicherung ein Zwei-Klassensystem

Mit Einführung der Pflegeversicherung wurde versäumt, ein einheitliches, solidarisches System für alle Bürger zu schaffen. In einem Zwei-Klassensystem sind Selbständige, Gutverdiener, Politiker und Beamte in der „Privaten Pflegeversicherung“ (PPV) versichert. Der Rest, die große Mehrheit der Bevölkerung, ist in der „Gesetzlichen Pflegeversicherung“ (GPV). Dies führt zu einer ungleichen Lastenverteilung. Die PPV hat im Gegensatz zur GPV gutverdienende Beitragszahler und verhältnismäßig weniger Pflegebedürftige. Wo bleibt hier die Solidarität?

Eigenanteil unsozial hoch

Die GPV deckt im Gegensatz zur „Gesetzlichen Krankenversicherung“ den vollen Aufwand für die Pflege nicht ab. Sie zahlt nur Festbeträge. Die Differenz zum tatsächlichen Pflegeaufwand muss der Pflegebedürftige selbst bezahlen. Die Festbeträge wurden nicht dynamisch an die Preisentwicklung angepasst. So waren in den ersten 20 Jahren die Festbeträge immer gleich, obwohl in der gleichen Zeit der Verbraucherpreisindex um über 30% gestiegen ist. Dies hat insbesonders bei der vollstationären Pflege dazu geführt, dass inzwischen der Eigenanteil nur für die Pflege mit durchschnittlich 912 Euro *) enorm hoch ist.

Der Aufwand für Unterkunft und Verpflegung (Hotelkosten) wird dem Pflegebedürftigen in Rechnung gestellt und beträgt durchschnittlich 801 Euro *).

Eine weitere Eigenleistung sind die Investitionskosten für Pflegeheime. Im Durchschnitt sind dies 466 Euro *). Die Bereitstellung und Finanzierung der Pflegeheime ist eigentlich Aufgabe der öffentlichen Hand (Länder und Kommunen). Sie ziehen sich immer mehr aus ihrer Verantwortung zurück und überlassen dies privaten Unternehmen. Private Unternehmen sind auf Profit ausgerichtet. Auf Kosten der Pflegebedürftigen werden hohe Renditen realisiert.

In Summe bezahlt der Pflegebedürftige durchschnittlich 2179 Euro *) im Monat an das Pflegeheim. (Regional sind die Unterschiede sehr groß, so sind es in Sachsen-Anhalt 1588 Euro und in Nordrhein-Westfalen 2542 Euro.). Für den Eigenbedarf (Kleidung, Drogerieartikel, Friseur, Rezeptkosten usw.) benötigt er zusätzlich noch 300 Euro. Zum Vergleich erhält der sogenannte Standardrentner nach 45 Beitragsjahren eine Nettorente von1370 Euro. Der Gang zum Sozialamt ist für viele Pflegebedürftige vorprogrammiert. Diesen Zustand wollte man mit der Pflegeversicherung eigentlich vermeiden.

Auch bei der häuslichen Pflege werden die Kosten für den Pflegedienst von der GPV nicht voll abgedeckt. Kann der Pflegebedürftige den Eigenanteil nicht finanzieren, bleibt auch ihm der Weg zum Sozialamt nicht erspart. Rund 50 Prozent aller Pflegefälle werden von Angehörigen zu Hause gepflegt. Ihre Leistung wird von der GPV nicht  bzw. nur geringfügig honoriert.

Reform der Pflegeversicherung --- Pflegevoll­versicherung für alle Bürger

Die heutige Form der GPV ist unsozial und nicht solidarisch. Der hohe und weiter steigende Eigenanteil ist für die Pflegebedürftigen nicht zumutbar und treibt immer mehr Menschen in die Sozialhilfe. Die ADG fordert deshalb eine radikale Reform der Pflegeversicherung zu einer modernen Pflegevollversicherung für alle Bürger. Zur Finanzierung der Mehrkosten müssen die Einnahmequellen erweitert werden.

Schwerpunkte der Pflegevollversicherung und die entsprechenden Forderungen der ADG sind:

  • Einheitliches Pflegeversicherungssystem für alle Bürger einschließlich Selbstständige, Politiker und Beamte – kein Zwei-Klassensystem

  • Eine menschenwürdige Pflege, nicht im Minutentakt nach Festbeträgen

  • Die Pflege kann und darf nicht auf Profit für wenige ausgerichtet sein und unter Wettbewerbsdruck stehen. Private Unternehmen dürfen nicht auf Kosten der Pflegebedürftigen und der Beschäftigten in der Pflege hohe Gewinne machen.

  • Beitragspflicht für alle Einkommen

  • Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze

  • Aufhebung der Eigenanteile für die Pflegekosten, auch bei der häuslichen Pflege

  • Aufhebung der Eigenanteile für die Investitionskosten, sie sind Aufgabe der Länder und Kommunen, ersatzweise finanziert sie die Pflegeversicherung

Zusätzliche Forderungen die ADG sind:

  • Die Beiträge der abhängig Beschäftigten tragen paritätisch Arbeitgeber und -nehmer zu gleichen Teilen, Selbständige den vollen und Rentner max. den halben Beitragssatz.

  • Keine Beiträge von Pflegebedürftigen

  • Volle staatliche Übernahme der Kosten/Beiträge von Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und nicht erwerbstätigen Asylbewerbern

  • Vereinfachung der zeitaufwendigen Dokumentation durch technische Hilfsmittel

  • Bessere gesellschaftliche Anerkennung und voller finanzieller Ausgleich für Angehörige und Nicht-Angehörige, die die Verantwortung der häuslichen Pflege übernehmen (kürzere Arbeitszeit, Verdienstausfall, Urlaubsanspruch, Kündigungsschutz, Altersversorgung)

  • Bei der ambulanten Pflege rechnet der Pflegedienst direkt mit der Pflegekasse ab. Der Pflegebedürftige bestätigt nur die Leistungen.

  • Mitbestimmung der Versicherten in allen Gremien

  • Bessere Bezahlung der Pflegekräfte und eine verbesserte Personalausstattung

  • Komplettes Aufheben der Mehrwertsteuer auf Arznei- und Pflegehilfsmittel, mindestens Senkung von 19 auf 7 Prozent

  • Abschaffung aller Zuzahlungen (Pflegehilfsmittel)

  • Barrierefreie und bezahlbare Wohnangebote für Pflegebedürftige

Die Reform der Pflegeversicherung benötigt einen längeren Zeitraum, deshalb sind einzelne Verbesserungen bei der GPV vorzuziehen.

*) Quelle: vdek Finanzielle Belastung eines Pflegebedürftigen in der stationären Pflege 1. Januar 2022

Manfred Schmidtlein